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Einzigartige Geschichten

Die Liebe leitet Dich

Es ist eine unkomplizierte Schwangerschaft. Ebenso die Geburt der kleinen Julia. „Alles easy“, erinnert sich Charlotte Fischer*, Julias Mutter. Zwei gesunde Mädchen, damals neun und acht Jahre alt, haben sie und ihr Mann Sebastian bereits, die Vorfreude auf Julia ist groß. Bei allen. Eigentlich wäre damit alles gesagt, doch Charlotte Fischer formuliert es wie es wahrscheinlich nur eine Mutter kann: „Da ist noch jemand, der zu uns will. Ich wusste, dass es dieses Kind gibt. Ich wollte es immer haben.“ Im August 2006 kommt Julia in einem Krankenhaus im Rheinland zur Welt. Das Dreimädelhaus, es ist perfekt. Sechs Wochen später tritt die gesamte Familie die erste Reise an. Der Säugling natürlich dabei. Alles kein Problem.

Um Julias Geschichte besser zu verstehen, ist es wichtig, zu wissen was für ein Kind sie ist: ein strahlendes, ein fröhliches, ein kraftvolles. Ein Kind, das so viel Liebe gibt und Lebensfreude versprüht, beschreibt Charlotte Fischer ihre Tochter. Welchen Wert diese Qualitäten wirklich einmal haben wird im Leben ihres Kindes ahnen sie und ihr Mann lange nicht. Auch nicht, als im Sommerurlaub 2007 in den Bergen eine Freundin der Familie auffällt, dass „das Kind schielt“ und den Eltern rät „zum Augenarzt zu gehen“.

Schielen bei Kleinkindern – hin und wieder – das kennt man, nichts ungewöhnliches. Aber natürlich gehen die Eltern mit Julia – sofort nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub – zu einem Augenarzt in Düsseldorf. Es ist der 13. August 2007. Ein Datum, das sich in die Erinnerung der Eltern eingebrannt hat. Julia ist ein Jahr alt. Und es fällt in der Praxis nach kurzer Untersuchung nur dieser eine Satz: „Da ist was.“ Man überweist die Familie nach Essen in das Universitätsklinikum, denn dort, so der Augenarzt, seien die Spezialisten: „Da werden Sie schon sehen.“ Die Eltern kämpfen darum noch am gleichen Tag in Essen angehört zu werden. Charlotte Fischer erinnert sich an den allerersten Gang nach Essen, ohne konkrete Diagnose vom überweisenden Arzt, nur mit diesem schrecklichen Gefühl. Und dieser Angst: „Da ist dieser Aufzug. Und da ist diese tönerne Durchsage „Sehschule und Tumorabteilung“. Welche Mutter denkt an so einen Ort, will diesen je betreten, mit dem eigenen Kind auf dem Arm. Wenn Charlotte Fischer davon spricht, imitiert sie die Stimme und die Durchsage – und der Zuhörer ahnt, wie tief sich so vieles in ihr Gedächtnis gegraben hat. Auch der Flyer, der ihr damals in die Hände fällt. Darauf steht in großen Buchstaben: Retinoblastom. Daneben das Foto eines Kindes mit weißen Pupillen. Himmel, denkt sie, solche Bilder mache ich von Julia doch auch.

Mit einem Schlag ändert sich das ganze Leben

Julia wird untersucht. Ausführlich. Drei Ärzte machen Tests. Die weiße Pupille, die auf Julias Babyfotos zu sehen ist – hier bekommt das Phänomen eine Erklärung: Die Pupille des Kindes stellt sich nicht, reagiert nicht auf Licht. Dann endlich spricht einer der Mediziner die Diagnose aus: „Retinoblastom. Bösariger Tumor in der Netzhaut. In beiden Augen.“ Sätze wie Schläge. Charlotte Fischer: „Ich habe geschrien, geweint.“ Ihr Mann, sagt sie, sei ganz sachlich geblieben. Vollkommen ruhig. Zwei Pole, die sich ergänzen. Sie sagt: „Unser Leben änderte sich. Das war klar.“

Die Diagnose Krebs ändert das Leben von Menschen und deren Familien, bringt Erfahrungen mit sich, über die nicht jeder Betroffene offen sprechen kann oder mag.

Kann ein Kind mit fünf Jahren schon stark sein – für die Widrigkeiten, die ein Menschenleben so bereithält? Die kleine Julia Fischer ist es wohl. Als sie am 20. August 2007 – genau eine Woche nach der Krebsdiagnose – nach einer zweistündigen Operation im Universitätsklinikum Essen aus der Narkose erwacht, ist ihr rechtes Auge entfernt. Es bleibt eine dunkle Höhle. Das Kind schreit nicht, es jammert nicht. Es erträgt. In der Woche zwischen Diagnose und Operation herrscht Ausnahmezustand im Haus Fischer. Es ist für alle – auch für Julias große Schwestern – eine unglaubliche Belastung. In seinem Arbeitszimmer wälzt Sebastian Fischer Literatur, telefoniert mit Experten auf der ganzen Welt. „Ich wollte alles wissen, verstehen und bis ins Detail durchdringen“, sagt er. Er ist es seinem Kind schuldig. Und dieses Gefühl treibt ihn, hält ihn aufrecht. Sechs Wochen lang. Er recherchiert 24 Stunden am Tag, bis es nicht mehr geht, bis zur Erschöpfung: „Und dann kamen auch mir die Tränen.“ Mitten in der Nacht, er habe sie nicht mehr aufhalten können, sagt er. Sein Weinen – Stunden hat es gedauert: „Es war ja nicht nur eine Krankheit, die ich versuchte in allen Facetten zu verstehen. Es war mein Kind, um das es hier ging und um dessen Leben ich kämpfte.“

Sebastian Fischer, studierter Biologe und Jurist, wird zum Experten, mit dem die Ärzte seines Kindes fast auf Augenhöhe sprechen können. Seine Frau erinnert sich, dass ihr ein Arzt mal gesagt habe: „Fragen Sie ihren Mann.“ Therapievorschläge kommen von den behandelnden Ärzten nicht, die Eltern müssen allein entscheiden: Was mit ihrem Kind passieren, welche Behandlung Julia erhalten soll. Chemotherapie? Oder Bestrahlung? Welche Risiken gibt es? Wer hilft uns abzuwägen? Und was ist mit dem Tumor im zweiten Auge? Lassen wir auch das entfernen und nehmen unserem Kind das Augenlicht?

Die beiden finden einen Weg für ihr Kind. Nicht zuletzt mit Hilfe von vielen Freunden, mit denen im Haus eine Woche lang bis tief in die Nacht diskutiert wird. Dazwischen Krisen, furchtbare Krisen, gerade bei Charlotte Fischer, die nicht weiß, wie ihre kleine Tochter dieses Schicksal ertragen soll. Eine Freundin, die ebenfalls ein krankes Kind hat, gibt ihr die berührende Antwort: „Dein Kind leitet dich.“ Was so überirdisch klingt, erweist sich in den kommenden Wochen und Monaten als wahr. Julia erträgt ihr Schicksal: Die erste Augenprothese und die Strahlentherapie, mit der der Tumor im anderen Auge zertrümmert werden soll. Denn dafür haben sich Charlotte und Sebastian Fischer entschieden. „Irgendwann“, so die Mutter „wird Julia uns fragen, dann wollen wir ihr lückenlos nachweisen, warum wir uns so entschieden haben.“ In dieser schlimmen Zeit gibt es aber auch eine gute Nachricht. Der Sehnerv des operierten Auges ist nicht metastasiert, teilen die Ärzte den Eltern mit.

Doch der Weg ist noch weit. Charlotte Fischer versucht zu erklären wie die „Gammastrahlen von einer Schläfe in die andere geschossen werden und den Tumor zerstören“. Wochenlang leben Mutter und Kind in der Klinik. 50 Kilometer weiter, daheim im schönen Haus der Familie, versucht ihr Mann mit den beiden großen Töchtern klar zu kommen. Die Gedanken immer in Essen. Eine Parallelwelt nennt Charlotte Fischer den Treffpunkt für die kleinen, jungen Krebspatienten. Irgendwo in den Katakomben der Uni-Klinik sitzen die Kinder – mit kahlen Köpfen, manche verängstigt, erschöpft, manche ruhig, andere jämmerlich – und warten mit ihren Eltern darauf, aufgerufen zu werden. Charlotte Fischer erinnert sich an diese Zeit, die nun vier Jahre zurückliegt: „Ich fühlte mich oft ohnmächtig. Die Angst kommt immer noch in Wellenbewegungen.“ Ihr Leben, sagt sie, sei reicher geworden, aber auch nicht mehr so unbeschwert. Regelmäßig fahren Mutter und Tochter in die Parallelwelt. Klinikum Essen, Aufzug, Tumorabteilung. Alle drei Monate. Zur Kontrolle. Immer dienstags. Und dann sitzen sie wieder da, die vielen so jungen Augenkrebspatienten. Auf einem Flur, Stuhl an Stuhl, wartend, mehr oder weniger geduldig. Die Eltern – sie reißen sich zusammen, irgendwie; die Kinder zerren am Schaukelpferd, dem einzigen Spielzeug auf diesem langen Flur. Abgesehen von einigen abgegriffenen Bilderbüchern. Was für Charlotte Fischer eine psychische Belastung ist, ist für Julia fast „wie ein Fest“. Dabei ist nämlich immer ein eigener Korb voller Spiele. Julia liebt diese Spiele. Die Mutter weiß, sie helfen nicht nur im Hier und Jetzt, sie helfen ihrem Kind auch, sich als junge erwachsene Frau in vielen Jahren zu erinnern, an ein gutes Bild aus einer dunklen Zeit.

Drei Jahre dauert der akute Ausnahmezustand. Drei Jahre mit vielen Untersuchungen für Julia, bei denen es immer um alles geht. Drei Jahre auch, in denen das normale Leben für die großen Mädchen weithergehen muss. Irgendwie geht es immer weiter.

Aber weitermachen wie bisher fühlt sich für Julia und ihren Mann nicht richtig an. Das Gefühl, dass das Leben diese Wendung nicht zufällig für sie vorgesehen hat und dass sie nicht so weitermachen wollen wie bisher, wird immer stärker.

Immer klarer wird, dass Julia früher hätte diagnostiziert werden können, wenn die Kinderärztin nur ein einziges Mal in ihre Augen geschaut hätte. Diese Untersuchung ist 2006 aber im Rahmen der frühkindlichen U-Untersuchungen nicht vorgesehen. Die weiße Pupille taucht bereits im Alter von vier Monaten bei Julia auf Fotos auf – ein eindeutiges Warnzeichen für die schwere Krebserkrankung von Julia.

Der Gedanke lässt Julia Fischer und ihrem Mann keine Ruhe. Jeden Tag werden auf der ganzen Welt Kinder mit einem Retinoblastom diagnostiziert. Meistens zu spät. Wenn man das nur einem einzigen Kind ersparen könnte – durch die eigene Erfahrung – das wäre großartig.

Julia ist Journalistin, Sebastian ist Biologe – in der Krebsforschung tätig. Er kennt such fachlich aus, sie mit Öffentlichkeitsarbeit. Sie bestellen sich ein Buch bei Amazon „Wie gründet man eine Stiftung“. Ein befreundeter Mediziner ermutigt sie ebenfalls – „Gründet eine Stiftung!“. Ein verrückter Gedanke zunächst, aber Julia und Sebastian sind neugierig, lesen, führen Gespräche und finden Menschen, die etwas davon verstehen, die mitmachen und sie unterstützen.

Im Jahr 2009 gründen die beiden die „KinderAugenKrebsStiftung“ – eine Stiftung, die zunächst nur über die Warnzeichen für ein Retinoblastom aufklären möchte und ein Retinoblastomregister ins Leben ruft. Acht Jahre kämpfen die Fischers für die Aufnahme einer verpflichtenden Augenuntersuchungen im Rahmen der frühkindlichen U-Untersuchungen – und am 1.9.2016 tritt sie tatsächlich in Kraft: die neue Richtlinie im Rahmen der U-Untersuchungen, die dem Kinderarzt endlich vorschreibt, den Brückner-Test mit dem direkten Ophthalmoskop durchzuführen. Hunderte von Kindern in Deutschland werden davon profitieren. Es ist einer der größten Erfolge der Stiftung.

Parallel initiiert die Stiftung viele Forschungsprojekte mit namhaften Universitätskliniken, vernetzt sich weltweit, sammelt Gelder und erzielt wichtige Forschungsergebnisse im Bereich der Behandlung und der Frühentdeckung von Zweittumoren.

Mit den vielen Menschen, die einmal auf sie zukommen würden, hatten die Fischers bei ihrer Stifungsgründung zunächst nicht gerechnet: Familien, die frisch betroffene Kinder haben und Hilfe brauchen, Survivor, die seit Jahrzehnten allein mit ihrer Krankheit leben, allein mit den Folgen zurechtkommen müssen, nie andere Betroffene kennengelernt haben. Innerhalb weniger Jahre wächst die „KAKS Familie“ auf viele hundert Menschen an.

Heute geschehen im dem kleinen Büro der Stiftung in Düsseldorf jeden Tag wunderbare Dinge: Menschen treffen sich, helfen einander, hören einander zu. Forscher rufen an und möchten die Versorgungssituation der kleinen Patienten verbessern – und beantragen Forschungsgelder bei der KAKS. Hier werden Mutmachergeschichten aufgeschrieben, das Hilfsangebot für die kleinen Kinder und ihre Familien und für Survivor wir immer größer. Immer mehr Menschen kommen auf die KAKS zu. Alles macht so viel Sinn. Und die Fischers sind sich heute sicher, dass es richtig war, den starken Seitenwind, der 2006 ihr kleines Schiffchen in ganz unbekannte Welten gelenkt hat, anzunehmen, nicht dagegen zu steuern, sondern die Richtung zu ändern und neugierig darauf zu schauen, was diese Welt bereit hält. Eine Welt voller Leid, aber auch unendlicher menschlicher Wärme, Tiefe und Schönheit.