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Katrin

„An den Beginn meiner Krankheit kann ich mich nicht direkt erinnern. Ich war damals in der ersten Klasse und trug eine Brille. Irgendwann habe ich mich darüber beklagt, dass ich auf dem rechten Auge Flecken sehen würde. Nach einem Augenarztbesuch wurde ich mit dem Verdacht auf Retinoblastom an die Uniklinik in Essen überwiesen.

Die Bestätigung des Verdachts war natürlich ein großer Schock für meine Eltern. Ich weiß noch, dass meine Mutter geweint hat. Warum war mir damals natürlich nicht klar. Trotz allem habe ich meine Eltern mir gegenüber emotional gefasst in Erinnerung. Wie gesagt das eine Weinen höre ich noch heute, aber an andere Situationen kann ich mich nicht erinnern. Ich glaube, ihr stabiles Verhalten gab mir Sicherheit und nahmen mir Ängste. Ich bewundere meine Eltern dafür, ich wüsste nicht, ob ich das selbst so könnte.

An die Zeit in der Klinik kann ich mich gar nicht richtig erinnern. Es gibt nur ein paar „Fetzen“. Als ich jetzt im Oktober zur Studie dort war, habe ich den Wartebereich wieder erkannt. An die OP, Behandlungen, Ärzte oder Schwestern und so weiter kann ich mich nicht richtig erinnern – außer, dass meine Mutter bei mir geblieben ist und mein Vater abends zu Besuch kam. Auch an die Frau, die mit uns auf dem Zimmer war, kann ich mich noch wage erinnern.

An die Anfertigung meines ersten Glasauges kann ich mich jedoch noch recht gut erinnern. Bis heute bin ich in der Praxis Leipholt in Essen und ich weiß noch, dass ich die ganze Zeit zuschauen dürfe, wie das Auge hergestellt wurde. Das hat mich sehr fasziniert. Dort habe ich auch erklärt bekommen, wie es eingesetzt und gereinigt wird. Meine Eltern haben mich von Anfang an das Rausnehmen und Wiedereinsetzten selbst machen lassen.

In der Schule hatte ich natürlich eine ganze Zeit gefehlt. In der Rückschau muss ich sagen, dass mein damaliger Klassenlehrer sehr gut damit umgegangen ist. Mit der gesamten Klasse wurde besprochen, dass ich sehr krank war, jetzt wieder da wäre und dass alle froh wären, dass es mir wieder gut geht. Aber ich glaube, dass es nicht um Details (Krebs, Augenentfernung, Glasauge,…) ging. Enge Freunde wussten es schon, dass ich ein Glasauge habe, aber es war nie ein großes Thema. In meiner Grundschulzeit kann ich mich auch nicht an irgendwelche Hänseleien oder Ausgrenzungen erinnern und auch später nicht. Ich habe mich auch eingeschränkter gefühlt als andere. Das kommt bestimmt auch daher, dass meine Eltern mich nicht in Watte gepackt haben, ob wohl ich das im Nachhinein hätte verstehen können.

Die Pubertät war natürlich so eine Zeit in der phasenweise viel Wert auf das Aussehen gelegt wird und man sich als Mädchen darüber definieren möchte. Da hat mich das Schielen schon manchmal etwas belastet und unsicher gemacht. Außerdem stellt man sich dann die Frage, warum einem so etwas passieren musste, wie die Zukunft aussieht, ob man den Führerschein machen kann usw. Aber ich muss sagen ich habe eine wunderbare Familie, die mir beigebracht hat, was den wirklichen Wert eines Menschen ausmacht, dass es viele Dinge gibt, für die wir dankbar sein können und das Selbstmitleid zu nichts führt. Außerdem gab es immer gute Freunde in der Schule und in der Kirchengemeinde, die mich akzeptiert haben, so wie ich bin. Dadurch habe ich in der Zeit ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln können. Ein Lied, finde ich, fasst diesen Gedanken der Einzigartigkeit sehr schön zusammen. Es ist von Jürgen Werth:

Du bist du
Vergiss es nie: Dass du lebst, war keine eigene Idee,
und dass du atmest, kein Entschluss von dir.
Vergiss es nie: Dass du lebst, war eines anderen Idee,
und dass du atmest, sein Geschenk an dich.
Vergiss es nie: Niemand denkt und fühlt und handelt so wie du,
und niemand lächelt so, wie du’s grad tust.
Vergiss es nie: Niemand sieht den Himmel ganz genau wie du,
und niemand hat je, was du weißt, gewusst.
Vergiss es nie: Dein Gesicht hat niemand sonst auf dieser Welt,
und solche Augen hast alleine Du.
Vergiss es nie: Du bist reich, egal ob mit, ob ohne Geld;
denn du kannst leben! Niemand lebt wie du.
Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur,
ganz egal, ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur.
Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu!
Du bist du,
das ist der Clou,
ja, du bist du!

Nach der Schule habe ich ein Lehramtsstudium für die Grundschule absolviert. Meine Fächer waren Mathe, Sport und Deutsch. Heute arbeite ich in diesem Beruf und ich muss sagen, es macht mir wirklich viel Freude, vor der Klasse zu stehen. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Behinderung meine Arbeit irgendwie negativ beeinflusst. Natürlich weiß ich, dass mein Blickkontakt nicht eindeutig ist, und da kann es dann auch schon mal zu Irritationen führen. Deshalb sehe ich zu, dass ich sie möglichst persönlich anspreche. Allerdings macht man das eigentlich sowieso, nur in Vertretungsklassen, die man nicht kennt oder neuen Klassen kann das schon mal vorkommen.

Generell versuche ich, ganz normal und offen mit meinen Schülerinnen und Schülern umzugehen.  Allerdings stelle ich mich nicht so vor: Hallo, ich bin die Frau Thöne ich habe ein Glasauge, sondern entscheide situativ, ob und wann es gut ist darüber zu reden. Die meisten Grundschüler akzeptieren einen einfach so, wie man ist und ihre Beurteilung eines Lehrers hängt mit der Persönlichkeit des Lehrers und mit seinem Unterricht zusammen. Ich behandele die Schüler mit Respekt und erwarte das auch von ihnen. Wenn es da Differenzen gibt, dann sprechen wir darüber.

Im Moment haben wir sogar ein Kind an der Schule, das auch ein Glasauge hat, allerdings nicht aufgrund eines Retinoblastoms. Zu solch einem Kind habe ich natürlich einen ganz anderen/ besonderen Draht und auch für die Mutter bin ich immer mal wieder eine Ansprechpartnerin gewesen. Ein besonderes Highlight war die Übergabe von „Elli“…

Beruflich wie privat muss ich sagen, fühle mich eigentlich ganz normal und nicht irgendwie eingeschränkt. Und oft denke ich auch gar nicht darüber nach, dass ich auf dem rechten Auge nichts sehe.

Bei ein paar Situationen merke ich, dass mir das räumliche Sehen fehlt/ oder es nicht ganz so ausgeprägt ist oder bemerke mein eingeschränkteres Blickfeld.

Ich fahre Auto, auch schnell und längere Strecken – finde allerdings die Kombination Nässe und Dunkelheit anstrengen… aber das tun andere Autofahrer auch.

Ich schenke nicht gerne Wein in Weingläser aus, da ich dabei merke, dass mir das räumliche Sehen fehlt… aber wenn man die Flasche kurz am Glasrand aufsetzt funktioniert das auch.

Ich spiele regelmäßig in einer Hobby mixed Mannschaft Volleyball. Im eingespielten Team kennt jeder die Stärken und Schwächen des anderen. Ich stehe zum Beispiel in der Annahme nicht auf der im Sportstudium gelernten Lehrbuch Position, sondern leicht versetzt um den „Totenwinkel“ auszugleichen.

Beim Skifahren sehe ich die Hubbel, wenn es bedeckt ist, nicht so gut und fahre dann unsicherer. Man muss dazu sagen ich komme zwar überall runter, aber ich bin technisch gesehen auch nicht die beste bzw. routinierteste Skifahrerin. Dennoch genieße ich jeden Winterurlaub.

Im Gebirge bin ich nicht hundertprozentig trittsicher, kann Felsstufen beim Abstieg nicht so gut abschätzen… Deswegen nutze ich beim Runtergehen gerne Stöcke, das gibt mir Sicherheit… zudem schont es die Kniegelenke.

Bei Fortbildungen, Vorlesungen, Vorträgen, im Gottesdienst, größeren Tischgemeinschaften,…  sitze ich gerne rechts außen. Damit habe ich alles Wichtige im Blick.

Beim Spazieren gehen laufe ich lieber auf der rechten Seite. Im Gedränge habe ich jemand Bekanntes gerne auf meiner linken…

Es ließe sich vielleicht noch mehr aufzählen, aber ich hoffe, ich konnte durch „mein Erzählen“ vermitteln, dass die Diagnose Retinablastom meine Lebensqualität nicht automatisch schlecht macht. Vielleicht dient es sogar dazu anderen Betroffenen Mut zu machen!

Katrin
Mutmacherin