- 06.12.2017,
- News & Insights
Aus Sicht einer Kinderärztin: Dr. Nadine Hess diagnostiziert RB
Zum ersten Mal in ihrer zwölfjährigen Tätigkeit als Kinderärztin hat Dr. Nadine Hess, Kinder- und Jugendärztin in Hamburg-Eppendorf, im vergangenen Jahr ein Retinoblastom diagnostiziert. Bei der kleinen Isabel, die damals gerade mal fünf Monate alt war. „Ich hatte sofort den Verdacht, dass es ein RB sein könnte“, erinnert sich Dr. Hess im Gespräch mit der KAKS. Über die Hinweise auf einen Tumor und die weiteren Umstände zur Abklärung wollten wir natürlich mehr wissen:
KAKS: Wie ist Ihnen die Krankheit bei Isabel aufgefallen?
Nadine Hess: Nun, eigentlich schon von weitem, aus der Entfernung, zwar nicht mit bloßem Auge, aber mit dem Ophthalmoskop. Das linke Auge des Kindes sah irgendwie wolkig aus. Als läge ein Nebelschleier darin. Da habe ich bereits gedacht: Es ist ein RB.
KAKS: Was war das für eine Situation, in der Sie diesen Verdacht hatten?
NH: Eine alltägliche. Die Mutter war mit dem Kind zu mir in die Praxis gekommen. Zur U5-Untersuchung. Also wirklich eine ganz normale Situation. Isabel war fünf Monate alt, ein super Mädchen. Alles schien in bester Ordnung. Und war es auch. Bis ich die Mutter am Ende der Untersuchung bat, das Kind auf den Schoß zu nehmen und sich einige Meter von mir entfernt hinzusetzen. So wie ich es immer tue. Denn ich wollte mit dem Ophthalmoskop die U5 mit der frühkindlichen Augenuntersuchung abschließen. Und da sah ich diesen Schleier in einem Auge sehr deutlich.
KAKS: War Ihnen sofort klar, wie Sie weiter vorgehen müssen?
NH: Ja. Zwei Dinge habe ich unmittelbar getan: Erstens einen Termin in der Augenklinik am Universitätsklinikum Eppendorf vereinbart. Gleich für den nächsten Tag. Ich wollte keine Zeit verlieren. Und Isabels Mutter habe ich gesagt, dass ich zeitnah eine Auffälligkeit abklären lassen möchte. Die Sehachse im Auge des Kindes entwickele sich natürlich noch und da ist es wichtig, rasch zu handeln. Meinen konkreten Verdacht habe ich der Mutter gegenüber nicht geäußert. Ich wollte ihr – für den Fall, dass ich mich doch irre – Stunden der Ungewissheit und Angst ersparen. Zu diesem Zeitpunkt machte sich die Mutter dann auch keine großen Sorgen, denke ich.
KAKS: Den Termin im UKE haben Sie schnell bekommen?
NH: Ja. Man fragte mich ganz direkt: Denken Sie es ist ein RB?
KAKS: Erinnern Sie sich an den Moment als klar wurde, dass die Fachärzte Ihre Diagnose – kaum 24 Stunden später – bestätigten?
NH: Aber sicher. „Oh Gott, das arme Kind“, das war mein erster Gedanke. Doch dann fiel mir ein, was ich im Studium gelernt hatte. Bei RB hat das betroffene Kind gute Chancen auf Heilung. Die weitere Abklärung und Behandlung erfolgte dann in Essen. Im nationalen Referenzzentrum für Retinoblastome.
KAKS: Wie war das Gespräch mit den Eltern als die Diagnose ultimativ feststand?
NH: Der Vater kam alleine zu mir in die Praxis, eigentlich nur, um notwendige Papiere für die Weiterbehandlung in Essen abzuholen. Das Gespräch war natürlich sehr emotional. Zunächst war er noch gefasst; wie Männer so sind. Ich sagte ihm, wie leid es mir täte. Und ich hoffte, dass er und vor allem seine Frau mir nachsehen, dass ich sie nicht sofort mit meinem Verdacht konfrontiert hatte. Er begann zu weinen. Bitterlich. Ein Moment, den ich sicher nicht vergessen werde. Ich erinnere mich, dass ich ihn in den Arm genommen habe.
KAKS: Isabel hat – und das wurde erst im Klinikum final festgestellt – ein bilaterales RB. Früh genug diagnostiziert, um das Augenlicht und das Leben des Kindes zu retten. Wie wichtig ist vor diesem Hintergrund der sogenannte Durchleuchtungstest nach Brückner.
NH: In einem Wort: Wichtig.
KAKS: Gehört er zum Standardprogramm? Und wie halten Sie es in Ihrer Praxis?
NH: Seit knapp einem Jahr ist der Brücknertest in der Tat verpflichtend in der Kinderrichtlinie für die U-Untersuchungen vier bis sieben aufgeführt. Das gilt für alle Kinderarztpraxen in Deutschland. Unabhängig davon führe ich diese Früherkennung von Sehstörungen aller Art im Kindesalter ab der U3- Untersuchung bis zum vierten Lebensjahr des Kindes durch.
KAKS: Die Kinderaugenkrebsstiftung freut sich natürlich, dass ihre Bemühungen, frühkindliche Augenuntersuchungen standardisiert vorzunehmen, so erfolgreich waren. Unser Fokus liegt dabei auch weiterhin auf der weißen Pupille, die ja ein Indiz für eine Erkrankung, für ein Retinoblastom sein kann. Weisen Sie Eltern in Ihrer Praxis auf das Phänomen weiße Pupille hin?
NH: Ehrlich? Nein. Man sagt den Eltern nicht, wonach man genau sucht. Es sei denn die Eltern wollen es ganz detailliert wissen. Aber nochmal: Die verbindliche Früherkennungsuntersuchung der Augen ist ein super wichtiger Schritt in der kindlichen Vorsorgeuntersuchung. Nur so konnte das Retinoblastom bei Isabel früh erkannt und schnell behandelt werden. Darüber bin ich froh. Und auch, dass sie bis heute meine einzige RB-Patientin ist.
Nadine Hess, geboren in Aachen, studierte Humanmedizin in Düsseldorf, Duisburg-Essen und Bochum. Ihre Facharztausbildung machte sie in Essen, in der Schweiz und in Datteln. Seit drei Jahren ist sie niedergelassene Kinder- und Jugendärztin in Hamburg-Eppendorf. Zusammen mit Dr. Nicolaus Lingens betreut sie etwa 1800 Kinder und Jugendliche. Am Tag ca. 70 bis 100 junge Patienten. Eine immense Verantwortung. Auch darüber wollte die KAKS mehr erfahren. In einem „Fragenhagel“, bei dem wir Dr. Hess gebeten haben, ihre Ja- oder Nein-Antworten spontan und ihre Begründungen kurz zu halten:
KAKS: Die Fachrichtung Kinder- und Jugendmedizin schon mal bereut?
NH: Ja. Weil es eine zwar aufregende, schöne, aber auch energieraubende Tätigkeit ist, die kaum Raum lässt für eine gute Work-Life-Balance.
KAKS: In Ihrer Praxis schon an Grenzen gekommen?
NH: Ja. Schlaflose Nächte, in denen ich mich frage, ob
ich etwas richtig gemacht habe, gehören dazu. Denn der Praxisalltag ist häu g nicht mehr als eine Momentauf- nahme, in der ich vielleicht drei bis vier Minuten Zeit habe, ein Kind richtig einzuschätzen.
KAKS: Ist es richtig, als Kinderarzt die Eltern in alles einzubinden?
NH: Ja.
KAKS: Kann das Verhältnis zu einer Familie zu emotional sein?
NH: Ja. Da muss man sehr aufpassen. Z. B. bei der Behand- lung von Kindern aus dem engen Freundeskreis. Die würde ich am liebsten nicht behandeln. Man läuft immer Gefahr, dass die Objektivität verloren geht.
KAKS: Ist Ihnen eine Familie besonders in Erinnerung?
NH: Ja. Isabel und ihre Familie. Sie war ein schwer krankes Kind. Meine erste RB Patientin. Das vergisst man nicht. Wie auch aktuell zwei weitere Krebspatienten, die mir sehr am Herzen liegen. Und erst vor wenigen Wochen hatten wir eine ungewöhnliche, lebensbedrohliche Situation, die ich auch nie vergessen werde. Eine Familie war zur U3- Unter- suchung mit ihrem Säugling in meiner Praxis. Als das Kind plötzlich kollabierte und reanimiert werden musste.
KAKS: Gehört Abstand zum „Job“ dazu?
NH: Ja. Aber es erklärt einem keiner wie man das schafft. Das muss man ganz alleine herausfinden.
KAKS: Ist die Kinder- und Jugendmedizin heute anders als etwa vor zehn Jahren?
NH: Ja. Eltern wollen weniger Verantwortung übernehmen. Heute niest das Kind drei Mal und einige Eltern kommen zu mir in die Praxis, um sicherzugehen, dass es nichts schlim- mes ist. Die Bereitschaft, einen normalen Infekt zu tolerie- ren, ist oft nicht mehr sehr ausgeprägt. Eltern sind heute oft überbesorgt und anspruchsvoll. Diese Haltung verändert auch die Praxis in der Kindermedizin. Zudem ist der Druck auf den Eltern, die oftmals beide arbeiten und dann ständig Fehltage auf der Arbeit haben, auch groß. Als ich klein war, war die Mutter oft zu Hause und es gab keinen Arbeitge- ber, der gedrängt hat, dass man schnell wieder zur Arbeit kommt.
KAKS: Ist es zulässig, Eltern mal nicht die volle Wahrheit zu sagen?
NH: Ja. Wenn man nicht 100 Prozent sicher ist.
KAKS: Ist teure Medizin die beste?
NH (lacht): Nee.
KAKS: Daraus ergibt sich die Frage: Was ist die beste Medizin?
NH: Eine, die mit Geduld, Zuneigung und Liebe einhergeht.