Einzigartige Geschichten
„Wir sind noch nicht im Hafen” – Gedanken eines Großvaters
Als die Nachricht kam, war ich fassungslos. Krebs. Augenkrebs. Meine Enkeltochter. Gerade erst gut vier Monate alt! Diagnose: Retinoblastom. Retino-was??? Als Student hatte ich mal einige Semester nebenbei im Krankenhaus gearbeitet und dort eine Menge aufgeschnappt. Seitdem laufe ich mit einem „gefährlichen“ medizinischen Viertelwissen durch mein Leben. Viel habe ich inzwischen über Krankheiten gehört und gelesen, wie jeder andere auch, aber das Wort Retinoblastom war mir bis zu diesem Tag noch nie begegnet. Verwandte, Freunde, Bekannte, Kollegen, kein Mensch hatte das Wort jemals gehört – geschweige denn davon, dass diese Tumore nur bei Kleinkindern auftreten, sich oft dramatisch schnell entwickeln und so schwer zu erkennen sind.
Realismus und Mut, in eine Zukunft zu schauen, wie immer sie für Isabel auch aussehen mag, sind die Kopfwerkzeuge, mit denen wir alle bis heute am besten klar kommen. Wir haben gelernt, dass diese Werkzeuge auch Optimismus und Hoffnung wieder befeuern können, nach der Untergangsstimmung in den ersten Stunden.
Einen überwältigenden Beweis dafür habe ich beim RB Treffen der KinderAugenKrebsStiftung in Düsseldorf erlebt. Opa Eckhard durfte mit. Plötzlich fand ich mich als Teil einer Schicksalsgemeinschaft wieder, als hätte ich schon ewig dazugehört. Die Selbstverständlichkeit, mit der dort Kinder, die Teile ihres Augenlichts verloren haben, mit ihrem
Alltag umgingen und miteinander und mit den Eltern und Großeltern ein fröhliches Treffen feierten, hat mich über- rascht, begeistert und, ja, auch getröstet. Es bewegt mich noch immer. Nie zuvor hatte ich eine so große Anzahl von Menschen erlebt, die ohne Anlaufzeit mit fast greifbarer Empathie und gleichzeitig großem gegenseitigen Respekt aufeinander zugehen und miteinander Zeit verbringen. Ich habe mich dort gefragt, ob es tatsächlich immer erst eines schlimmen gemeinsamen Erlebnisses bedarf, damit Menschen erkennen, was wirklich wichtig ist. Und über wie viel Unwichtiges wir uns oft Gedanken machen.
Die anfangs so große wie hilflose Frage: „Warum Isabel?“ nagt natürlich bis heute an mir. Aber sie ist verblasst – und nach dem Treffen in Düsseldorf noch mehr. Dass es auf die Frage keine Antwort gibt, war zwar von Anfang an klar, aber trotzdem hätte ich gerne eine gehabt. Jetzt brauche ich keine mehr, weil ich im ersten Lebensjahr meiner Enkeltochter mehr gelernt habe als in vielen meiner eigenen. Sie ist längst wieder ein „ganz normales“ Enkelkind, wie all die Lütten, die ich in Düsseldorf gesehen habe.
Und nicht nur die haben mir, dem Großvater, der ja alles eher aus der zweiten Reihe miterlebt, dort weitergeholfen.
Es waren auch jene Mutmacher, von denen einige schon seit vielen Jahren mit einer Sehbehinderung leben. Lange Gespräche habe ich mit Thommy aus Kiel geführt. Er war nach nur wenigen Minuten wie ein guter Freund, der einem „Neuen“ wie mir von seinen Erfahrungen berichtete. Davon, wie das funktioniert, mit nur einem Auge ein ganz normales Leben zu führen. Balsam für jemanden, der immer noch ein wenig zwischen Dankbarkeit für und Bangen um das Erreichte hin und her taumelt. Gut, zu erleben, dass jemand trotz dieser Erkrankung als Erwachsener sein kann wie Thommy: Positiv denkend, mit beiden Beinen mitten im Leben und mit allem im Reinen. Hallo Thommy!
Dank der wohl weltweit einzigartigen Behandlungsmöglichkeiten im Klinikum Essen und dem riesigen Glück, das Isabel bisher hatte, wird sie aller Voraussicht nach ein nahezu zu hundert Prozent gesundes Auge und eines mit Einschränkungen im Sehfeld behalten. Nicht alle Kinder hatten so viel Glück wie sie. Ich weiß aber auch, dass ihr Weg noch nicht zu Ende ist, auch wenn wir inzwischen Land am Horizont sehen.
„Den Törn haben wir ja prima hingelegt“, sagte ich vor vielen Jahren mal zu meinem alten Skipperfreund, mit dem ich oft auf der Ostsee war. Wir hatten auf seiner Segelyacht gerade Kiel Leuchtturm passiert. Seine Antwort auf mein positives Fazit kam mit sechs trockenen Worten: „Wir sind noch nicht im Hafen.“ Das gilt heute nicht nur für uns, für Isabel und ihre Familie. Deshalb wünsche ich allen, die noch unterwegs sind, eine glückliche Reise.